Viktimisierung und Systemvertrauen

Projektzeitraum

1995 – 1998

Projektmitarbeiter

Prof. Dr. Ute Gabriel

Eberhard Mecklenburg

Prof. Dr. Thomas Ohlemacher (Projektleiter)

Prof. Dr. Christian Pfeiffer

Finanzierung

Gefördert durch die Volkswagen-Stiftung

Projektbeschreibung

Im Herbst 1995/1996 hat das EMNID-Institut, Bielefeld, im Auftrag des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), finanziert mit Mitteln der Volkswagen-Stiftung, bundesweit ca. 7.900 deutsche und ausländische Geschäftsleute telefonisch und postalisch befragt. In die Untersuchung einbezogen waren Geschäftsleute aus der Gastronomiebranche der ethnischen Herkunft

deutsch
italienisch
griechisch
türkisch

Die Erhebung erfolgte in zwei voneinander unabhängigen Teilen durch ein standardisiertes Interview in einer telefonischen Befragung (N=4.393) und eine schriftliche Befragung (N=3.489) mittels eines Fragebogens.

Erfragt wurden, neben Opfererfahrungen im Zusammenhang mit allgemeiner Kriminalität, insbesondere Erfahrungen im Kontext von Korruption und Schutzgelderpressung. Im telefonischen Interview wurden letztgenannte in Form von “Stellvertreter-Viktimisierung” (z.B. “Kennen Sie jemanden, der …”) abgefragt, nur im schriftlichen Fragebogen wurde eine mögliche eigene Opfererfahrung angesprochen.

Als zweiter thematischer Schwerpunkt wurden Aussagen zum Vertrauen in Polizei, Gerichte, Verfassung bis hin zur Idee der Demokratie erhoben. Neben Variablen zur Geschäfts- und Personensoziodemographie wurden schließlich verschiedene psychologische Variablen (u.a. Kontrollüberzeugungen) erfasst.

Eine besondere Herausforderung methodischer Art lag für diese Studie in der schwierigen Erreichbarkeit bzw. niedrigen Antwortbereitschaft der Befragten. Auch durch intensivste Bemühungen konnten keine Werte erreicht werden, die für eine Repräsentativität und die Verallgemeinerung bspw. der Betroffenheitsraten als ausreichend zu bezeichnen gewesen wäre. Die Projektgruppe ist dieses Problem offensiv angegangen und hat es durch die Frage nach sogenannten “perzipierten Viktimisierungsraten” (selbe Ethnie, selbe Branche, selbe Stadt) zu lösen versucht. Die perzipierten Raten sind mit Hilfe anderer erhobener Viktimisierungsmaße validiert worden. Das zentrale Ergebnis lässt sich wie folgt beschreiben: Trotz niedriger Rücklaufquoten kann ein Sample von Befragten dann zu brauchbaren Ergebnissen mit Blick auf die Verbreitung besonders sensitiver Delikte führen, wenn es (a) auf ausreichender quantitativer Basis und (b) versehen mit einer Strukturgleichheit mit der Grundgesamtheit (c) im Katalog der Fragen solche mitführt, die Einschätzungen zur Verbreitung der Delikte im überschaubaren Lebensumfeld der Interviewten erbitten. Im konkreten Falle konnten die in der öffentlichen Diskussion der letzten Jahre behaupteten exorbitant hohen Zahlen der Verbreitung von Erpressungen und Korruptionsfälle durch die Angaben der von uns Befragten nicht bestätigt werden.

Innerhalb der Projektlaufzeit sind umfängliche methodische Berichte und deskriptive Analysen veröffentlicht worden. Mit dem Ende der Projektlaufzeit konnten neben dem Abschlußbericht an die Volkswagen-Stiftung zwei Monographien vorgelegt werden, die aus soziologischer und psychologischer Sicht die beiden Hauptfragestellungen des Projektes vorstellen und bearbeiten.

Thomas Ohlemacher kann in seiner soziologischen Analyse die Kernthese des Projektantrags, wonach Schutzgelderpressungen und Korruption bei den Opfern das Vertrauen der Betroffenen in das rechtsstaatliche und politische System der Bundesrepublik erschüttern, nicht bestätigen. Zwar finden sich Beeinträchtigungen auf der Ebene der Zufriedenheit mit und des Vertrauens in die konkreten Akteure und ihre Handlungsweisen – das Vertrauen in die Demokratie und in das Gewaltmonopol sind jedoch nicht erschüttert. Dieses unerwartete Ergebnis der Analysen wird mit Hilfe der soziologischen Systemtheorie zu erklären versucht.

Ute Gabriel geht in ihrer Arbeit der Frage nach, wie sich Viktimisierungen und Kontrollüberzeugungen auf die Kriminalitätsfurcht und das Strafbedürfnis der Betroffenen auswirken. Ihre als psychologischen Dissertation an der TU Berlin angenommene Arbeit kommt zu dem Befund, daß die Erfahrung einer kriminellen Viktimisierung die Kriminalitätsfurcht erhöht. Diese Wirkung bleibt von der Überzeugung der Person unbeeinflusst, den Eintritt einer kriminellen Viktimisierung verhindern zu können. Allgemeine Kontrollüberzeugungen wirken ihrerseits unabhängig von der Belastung durch kriminelle Viktimisierung auf die Kriminalitätsfurcht. Das Strafbedürfnis schließlich ist durch den Opferstatus einer Person nicht vorherzusagen.

Der Datensatz des Projektes ist Mitte des Jahres 1998 nach weiteren umfänglichen Dokumentationsarbeiten durch das KFN mit den entsprechenden methodischen Begleittexten an das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln (ZA) überstellt worden.

Projektbezogene Publikationen

Bücher

  • Ohlemacher, Thomas, 1998, Verunsichertes Vertrauen? Gastronomen in Konfrontation mit Schutzgelderpressung und Korruption (Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Band 10). Baden-Baden: Nomos-Verlag.
  • Gabriel, Ute, 1998, Furcht und Strafe. Kriminalitätsfurcht, Kontrollüberzeugungen und Strafforderung in Abhängigkeit von der Erfahrung krimineller Viktimisierung (Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Band 12). Baden-Baden: Nomos-Verlag.

Zeitschriftenartikel

  • Wetzels, Peter, Thomas Ohlemacher, Christian Pfeiffer and Rainer Strobl, 1994, Victimization Surveys: Recent Developments and Perspectives. European Journal of Criminal Policy and Research Vol. 2, No. 4: 14-35 (Preprint: Forschungsberichte des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Nr. 28.)
  • Ohlemacher, Thomas, 1995, Besprechung von: Diego Gambetta, The Sicilian Mafia. The Business of Private Protection. Cambridge, Massachusetts/London: Harvard University Press 1993, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47: 391-392.
  • Gabriel, Ute, 1996, Kriminalitätsfurcht und Kontrollüberzeugungen: Ein Pretest theoretischer Überlegungen. Praxis der Rechtspsychologie, 1/2: 30-44.
  • Mecklenburg, Eberhard, Ute Gabriel und Thomas Ohlemacher, 1997, Auswahlverfahren und Validitätsprüfung bei speziellen Populationen: Eine bundesweite Befragung deutscher und ausländischer Gastronomen. ZUMA-Nachrichten 41: 153-170.
  • Ohlemacher, Thomas, und Christian Pfeiffer, 1997, In Konfrontation mit Schutzgelderpressung und Korruption? Eine bundesweite Befragung von deutschen und ausländischen Gastronomiebetreibern. Kriminalistik 51: 470-474.
  • Ohlemacher, Thomas, 1999, “Enttäuschend, aber immer noch vertrauenswürdig”, Schutzgelderpressungen und das Vertrauen in Recht und Politik. Zeitschrift für Rechtssoziologie 20: 125-162.
  • Ohlemacher, Thomas, 1999, Viewing the Crime Wave from the Inside: Perceived Rates of Extortion among Restaurateurs in Germany. European Journal on Criminal Policy and Research 7: 43-61.
  • Gabriel, Ute, 1999, “… for I am a stranger”: Ethnic origin and perceived risk of victimization. Swiss Journal of Psychology 58: 257-262.
  • Ohlemacher, Thomas, 2002, Racketeering and Restaurateurs in Germany. Perceived Deficiencies in Crime Control and Effects on Confidence in Democracy. British Journal of Criminology 42: 60-76.

Buchbeiträge

  • Ohlemacher, Thomas, und Christian Pfeiffer, 1994, Geschäftsleute in Konfrontation mit allgemeiner Kriminalität, Korruption und Schutzgelderpressung – ein Projektvorhaben. S.122-126 in: Stefan Hornbostel (Hrsg.), Allgemeine Verunsicherung und Politik der inneren Sicherheit (Dokumentation Nr.6 des Arbeitskreises “Soziologie der Politik” der Deutschen Gesellschaft für Soziologie). Jena: Friedrich-Schiller Universität, Universitätsdruck.
  • Ohlemacher, Thomas, und Eberhard Mecklenburg, 1996, Und dennoch Demokraten? Gastwirte und ihr Wissen um Korruption und Schutzgelderpressung. S. 111-136 in: Christian Pfeiffer/Werner Greve (Hrsg.), Forschungsthema Kriminalität. Festschrift für Heinz Barth. Baden-Baden: Nomos.
  • Gabriel, Ute, 1996, Erhebungsmethoden und Instrumentengüte am Beispiel der Befragung ausländischer Geschäftsleute. S. 48-51 in: Uwe Ewald (Hrsg.): Kulturvergleichende Kriminalitätsforschung und sozialer Wandel in Mittel- und Osteuropa. Workshop zu methodologischen Problemen einer Metropolenstudie. Bonn: Forum Verlag Godesberg.
  • Ohlemacher, Thomas, 1997, Deviant Behavior in a Network Analysis Perspective: A Structural-Constructionist Approach. Forschungsberichte des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), Nr.66. Hannover: KFN.
  • Ohlemacher, Thomas, und Ute Gabriel, 1998, Viktimisierung und Vertrauen: Ansprüche an das politische System und Effekte krimineller Viktimisierung im interethnischen Vergleich – eine empirische Studie. S. 319-333 in Jo Reichertz (Hrsg.): Die Wirklichkeit des Rechts. Rechts- und sozialwissenschaftliche Studien. Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Ohlemacher, Thomas, 2000, Extortion, Corruption and Trust. S. 69-84 in: Susanne Karstedt und Kai-D. Bussmann (Hrsg.), Social Dynamics of Crime and Control. New Theories for a World in Transition (Onati International Series on Law and Society). Oxford: Hart.
  • Ohlemacher, Thomas, 2001, Organisierte Kriminalität, Schutzgelderpressung und Korruption: Zur Validität und Wechselwirkung konstruierter Wirklichkeiten. S. 108 -125 in Martina Althoff, Helga Cremer-Schäfer, Gabi Löschper, Herbert Reinke und Gerlinda Smaus (Hrsg.), Integration und Ausschließung: Kriminalpolitik und Kriminalität in Zeiten gesellschaftlicher Transformation (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat). Baden-Baden: Nomos.

Projektbezogene Veröffentlichungen

  • Ohlemacher, Thomas, und Christian Pfeiffer, 1994, Viktimisierung und Systemvertrauen: Geschäftsleute in Konfrontation mit allgemeiner Kriminalität, Korruption und Schutzgelderpressung. Antrag an die VW-Stiftung. KFN-Forschungsbericht Nr.22. Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen.
  • Gabriel, Ute, Eberhard Mecklenburg, Thomas Ohlemacher und Christian Pfeiffer, 1995, Die KFN-Geschäftsleuteerhebung: Pretest, Sampling- und Instrumententwicklung (Projektbericht 1). KFN-Forschungsbericht Nr.50. Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen.
  • Gabriel, Ute, Eberhard Mecklenburg und Thomas Ohlemacher (unter Mitarbeit von Dieter Boumans und Imke Margraf), 1996, Die KFN-Geschäftsleuteerhebung. Hauptuntersuchung: Durchführung, Stichprobenbeschreibung und Fragen der Repräsentativität (Projektbericht 2). KFN-Forschungsbericht Nr.58. Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen.
  • Ohlemacher, Thomas, Ute Gabriel, Eberhard Mecklenburg und Christian Pfeiffer, 1997, Deutsche und ausländische Gastronomen in Konfrontation mit Schutzgelderpressung und Korruption: Erste Befunde der Hauptuntersuchung (Projektbericht 3). KFN-Forschungsbericht Nr.58. Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen.
  • Pfeiffer, Christian, und Thomas Ohlemacher, 1997, Schutzgelderpressung offenbar weniger verbreitet als angenommen, Korruption ist das größere Problem für die Demokratie. Erste Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von 7.900 Gastronomen. Pressemitteilung des KFN vom 25. April 1997.
  • Ohlemacher, Thomas (unter Mitarbeit von Eberhard Mecklenburg) (1998). Vertrauen, Viktimisierung, Verunsicherung. Erodiert Kriminalität die Demokratie? Abschlußbericht an die Volkswagenstiftung, Teil 1 (Projekt Viktimisierung und Systemvertrauen). Hannover: KFN.
  • Gabriel, Ute, 1998, Furcht und Strafe. Kriminalitätsfurcht, Kontrollüberzeugungen und Strafforderung in Abhängigkeit von der Erfahrung krimineller Viktimisierung. Abschlußbericht an die Volkswagenstiftung, Teil 2 (Projekt Viktimisierung und Systemvertrauen). Hannover: KFN.

Datensatz

  • Ohlemacher, Thomas, Ute Gabriel, Eberhard Mecklenburg und Christian Pfeiffer. Die KFN-Geschäftsleute Erhebung (1998). Deutsche und ausländische Gastronomen in Konfrontation mit Schutzgelderpressung und Korruption. Codebook und SysFile-Info zur telephonischen und postalischen Befragung (4 Bände). Zentralarchiv für empirische Sozialforschung, Universität zu Köln (verfügbar ab 1999).